Klavins (Kïaviòð), K.[*] Die Interpretationen des Mittelalters un Lettland während des nationalen Erwachens der Letten. Baltica: Die Vierteljahresschrift für Baltische Kultur. 2000, Heft 3, Herbst. S. 10-21.
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[S. 10]

Die Interpretationen des Mittelalters un Lettland während des nationalen Erwachens der Letten[**]

Das nationale Erwachen der Letten im 19. Jahrhundert[1] trug manche Eigenschaften, die für alle Völker Osteuropas charakteristisch waren. Das historische Bewußtsein neben der Muttersprache war eins der wichtigsten Elemente in diesem Prozeß[2]. An sich war das „Nationale Erwachen“ (tautas atmoda) in Lettland ein kompliziertes politisches, ökonomisches und kulturelles Ereignis, das nicht gleichzeitig alle Volksschichten erreichte. Die politische Terminologie, die auch für die Geschichtsrezeption und Geschichtsforschung relevant war, war noch nicht ausgearbeitet und klar. Es wurden erst während des „Erwachens“ klare Begriffe wie „Nation,” „Volk,“ „Letten,“ „Patriotismus“ usw. ausgedacht und benutzt.[3]

In diesem Artikel soll das Geschichtsbewußtsein und besonders die Rezeption des Mittelalters in den Werken einiger Mitglieder des nationalen Erwachens der Letten behandelt werden. Das Mittelalter vor der „deutschen Eroberung“ wurde als die für das Lettentum wichtigste Zeit und Quelle des Freiheitsgedankens im Sinne der Emanzipation von der deutschen Oberschicht verstanden.

Von außerordentlich großer Bedeutung für das Geschichtsbewußtsein der Mitglieder des nationalen Erwachens in Lettland oder „Jungletten“[4] war das geistige Erbe der deutschbaltischen Aufklärung und besonders die Werke von Garlieb Helwig Merkel (1769-1850) Die Letten, vorzüglich in Liefland[5], Die Vorzeit Lieflands[6] und WannemYmanta[7]. Hier kann man deutlich sehen, daß sich der lettische Nationalismus im 19. Jahrhundert größtenteils auf eine pseudo-historische Mythologie stützte, die mit einer ernsten, auf Quellen begründeten Geschichtsforschung nichts gemeinsames hatte. Als Beispiel einer nationalistischen Ideologie in Osteuropa kann die nähere Betrachtung [S. 11] dieser Mythologie interessant sein. Die These von der ursprünglichen Freiheit der Letten, die sich in einer harmonischen und demokratischen Gesellschaft manifestierte, wurde übernommen und weiterentwickelt. Besonders wichtig in diesem Zusammenhang war aber das mythologische Pseudopantheon der altlettischen Götterlehre wie auch der Vergleich Lettlands mit dem Griechentum, der eine neue Deutung gewann. Die Glorifizierung der Zeit vor der deutschen Eroberung wurde von Garlieb Merkel ganz im Sinne der in der Aufklärung vorhandenen Meinung von den „edlen Wilden“ geschildert,[8] die besonders in der Idee von Rousseaus „bon sauvage“ sichtbar wird, welche dieser Meinung nach in einer urtümlich glücklichen Gesellschaft lebten, die später durch die Entwicklung der Zivilisation zerstört wurde. Merkel stellt die Letten des 12. Jahrhunderts wie wild aber zufrieden dar[9]. Deutsche Händler, Missionare und Ritter, die während des 12. Jahrhunderts nach Lettland kamen, stellte er als listig und grausam dar, die die freien Letten in den Zustand der Sklaverei brachten.[10]

Für das junglettische Geschichtsbewußtsein[11] waren die Werke Johann Gottfried Herders (1744-1803) und besonders seine Theorie von dem „Volksgeist“ („Volksseele“), durch das jedes Volk einen besonderen Wert besitzt ungeachtet der Stufe seiner Zivilisation - die auch das nationale Erwachen anderer Völker Osteuropas (Ukrainer, Belorussen usw.) beeinflußt hat - von großer Bedeutung.[12] In seiner Arbeit Stimmen der Völker in Liedern äußerte sich Herder über die Schönheit der lettischen Volkslieder und bedauerte den Verlust der epischen Motive während der langen Fremdherrschaft,[13] wie Merkel auch.[14] Diese Aussagen ermutigten die Jungletten, nach dem Heroischen und Epischen in der eigenen Geschichte zu suchen.

Das Baltikum wurde in dieser Zeit wieder Schauplatz des west-östlichen Konflikts. Die Russische Monarchie, die im 19. Jahrhundert bald nationalautoritäre, bald bürokratisch-liberale Verwaltungspolitik betrieb, beabsichtigte auch die Zerstörung des spezifischen Charakters der deutschen Ostseeprovinzen Livlands und deren Institutionen. Die Deutschbalten versuchten ihre Rechte auf das Baltikum moralisch zu verteidigen. Die beste Möglichkeit, ihre ethisch begründete Kulturmission im baltischen Raum zu beweisen, war ihr Bezug auf die Geschichte des 13. Jahrhunderts. Das Zeitalter der deutschen Eroberung des Baltikums diente den deutschbaltischen [S. 12] Historikern als Argument für die Bewahrung der Autonomie und des deutschen Charakters der Ostseeprovinzen bis in das 20. Jahrhundert. Sie stellten dabei die deutsche Kultur als das Positive in der Geschichte des Baltikums dar. Zum Beispiel sprach Ernst Seraphim über die „Anfänge deutscher Kulturarbeit in Livland.“[15] Diese Einstellung verstärkte auch die nationale Opposition unter der lettischen Intelligenz. In diesem Kontext wurden auch die „Reden an die Deutsche Nation“ von Johann Gottlieb Fichte trotz der Zeitdistanz und anderem Adressaten[16] mit Begeisterung von den Jungletten aufgenommen und als Beispiel für die künftige Haltung der Letten angesehen.

Als Anstoß für das nationale Erwachen in Lettland, wie fast überall in Osteuropa, diente die Romantik, besonders die deutsche Romantik, die die lettische ebenso wie die deutschbaltische Betrachtung des Mittelalters beeinflußte. Obwohl die „klassische Zeit“ der deutschen Romantik zu Ende war, als die Jungletten die historische Bühne betraten, dauerte der Einfluß dieser geistigen Bewegung noch viel länger, besonders in Osteuropa, wo die Romantik oft als „Ausdrucksform aktueller, sozialer oder nationaler Probleme“ erschien.[17] In diesem Zusammenhang weist das lettische Nationalerwachen gemeinsame Züge mit der sog. slawischen Romantik (Slavenska Renesansa) auf.[18] Für beide war die in der Romantik übliche Glorifizierung des Mittelalters charakteristisch. Die Letten waren an der Zeit vor der Ankunft der Deutschen interessiert, während die deutschbaltischen Autoren mit Eifer das 13. und die nachfolgenden Jahrhunderte des mittelalterlichen Livlands erforschten. Besonders stark wurden dabei „die uralte indogermanische Sprache und Herkunft der Letten“ akzentuiert, wobei die objektive sprachliche Ähnlichkeil mit dem Sanskrit auch zu geschichtlichen Spekulationen führte.[19]

Da im 19. Jahrhundert unter Geschichte hauptsächlich politische Geschichte verstanden wurde und die lettische Intelligenz in der politischen Geschichte des mittelalterlichen Livlands nichts Glorreiches für das Volk fand, wurde teilweise auch die Geschichte des Großfürstentums Litauen wegen der sprachlichen und ethnischen Verwandtschaft mit dem Nachbarvolk als die eigene betrachtet und ausgewertet.

Als sich später im 19. Jahrhundert die Geschichte als wissenschaftliche Disziplin herausbildete und im [S. 13] Rahmen des Historismus von den deutschbaltischen Historikern betrieben wurde, läßt sich auch bei den Jungletten eine tiefere, analytische Beschäftigung mit den Quellen aufzeigen, die oft mit täglichen politischen Aufgaben verbunden war.

Schließlich war die Geschichtsauffassung der lettischen Intelligenz nicht allein mit den nationalen Zielen verbunden. Die Gesellschaftsordnung Lettlands vor der deutschen Eroberung wurde auch als Beispiel für allgemeinmenschliche Ziele dargestellt.

Das Erbe Merkels verbreitete sich lange vor dem nationalen Erwachen. Nach der Interpretierung von Merkels Werken durch J.Pulan (1796), die anscheinend in der religiösen Herrnhuter Bewegung verbreitet war, verfaßte Fridrihs Malbergs (1824-1907), ein Lehrer aus Dundaga, um 1850 die Biographie Merkels, die auch dessen Mittelalterbild beinhaltete.[20]Die Theorie von der vollkommenen Unterjochung der Letten durch die Deutschen sowie das pseudohistorisch-idyllische Bild der altlettischen Gesellschaftsordnung, gegründet von einem mythischen geistigen Vater, Videvud (Videvad bei Malbergs), wird hier wiederbelebt und in emotionell-romantischen Bildern geschildert.[21]

Besonders stark aber haben die Ideen Merkels die romantische Dichtung der Jungletten geprägt. Da diese Dichtung sich hauptsächlich auf eine ideale Vergangenheitsdarstellung bezog, ist es angebracht, die theoretischen Anschauungen der Dichter näher zu betrachten. Einer der größten Dichter der Jungletten - Auseklis (1850-1879) - schrieb in seinem Aufsatz „Über das Singen bei den Letten“:

Unsere glücklichen und freien Ahnen genau so wie die alten Griechen hatten ihre Uersammlungsorte, wo sie ihre Feste feierten, die mit Volksliedern, Volkstanzen usw. geschmückt waren. Dabei vergaßen sie nicht, ihre Dankopfer dem höchsten Ideal - der Gottheit zu bringen. Wenn nun die alten Griechen trotz ihres unglücklichen Splitterungsgeistes inmitten der Brüder, durch Religion (Anbetung der Götter), Orakel (das Umfragen der Götter durch die Priester), volkstänze (Spiele) usw. verschiedene Mittel hatten, durch die sie sich als ein Volk bekennen sollten, das sich zusammenhalten mußte und über alles die heilige Muttersprache und teure Sitten verehren mußte, dann sollten ja die friedlichen, einträchtigen und gemeinsam orientierten Altletten mit ihren Ligo-Festlichkeiten und allen Zeremonien [S. 14] noeh mehr für die obengenannten, glorreichen Ziele bereit sein. Das war ein Volk, ein Volksgeist, ein Wollen, ein Streben, ein Denken und eine Arbeit. Die schwere Last der Sklaverei fiel über das lettische Yolk. Das gesunde und starke Volk wurde unterjocht und in Ketten gefesselt. - So waren die Volksversammlungen und Gesellschaftszentren zu Ende und damit auch das ganze Zusammenleben, Eintracht und Gleichheit.[22]

Hier widerspiegelt sich die Auffassung Merkels über das glückliche Leben der alten Letten, das Bild von Harmonie zwischen Menschen, Gesellschaft und Gottheit.[23] Dies war seiner Meinung nach durch die deutsche Eroberung, die er als unmittelbare Unterjochung der Letten verstand, zerstört worden. Auch beim Vergleich mit dem Griechentum läßt sich an Merkel denken, der die politische Organisation der Letten vor der Ankunft der Deutschen als einen Zustand beschrieb, in dem Helden, Denker und Künstler ihrer Tätigkeit wie in den altgriechischen Republiken nachgingen,[24] während der Bezug auf den Volksgeist an Herder erinnert. Auseklis hat auch die Quellen seiner Weltanschauung nicht verheimlicht: in demselben Aufsatz nennt er Merkel[25] und Herder[26] als seine Lehrer.

Von der Erforschung der Volkskultur (bzw. der Volkslieder) bis zur romantischen Geschichtsauffassung und zum nationalen Selbstverständnis war es nur ein Schritt. Bereits Herder und Merkel meinten, daß die lettischen Volkslieder zwar keine epischen Züge acfweisen, doch diese müssen in der Frühzeit dagewesen sein, nur sind sie während der deutschen Oberherrschaft verlorengegangen. Diese Hypothese konnten die Jungletten mit der dominierenden mythologischen Theorie der Mitte des 19. Jahrhunderts verbinden, aus deren Sicht die Folklore nur ein Ausklang der uralten Mythologie war.[27] Der lettische Folklorist und größte Volksliedersammler, Kriðjânis Barons (1845-1923), schrieb im Vorwort seiner monumentalen Volksliedersammlung:

Hatten aber die Letten wirklich keine epischen Lieder? Im grauen Altertum vielleicht gab es sie doch. Solange das Volk ein politisches Leben hatte, Kämpfe mit umliegenden Nachbarvölkern ausfocht, solange hatte es auch Dichter, die solche Taten besangen. Aber solche Lieder sind keine Alltagslieder über das Leben, die uns die ganze Zeit vorAugen stehen und in gewohnter Ordnung immer nur fortgesetzt werden. Diese Lieder sind, so zu sagen, Sonntagslieder, Lieder über [S. 15] längst vergangene Zeiten, über glorreiche Ahnen, ihre Taten und Kämpfe. Pfleger und Sänger solcher Lieder konnten auch nicht die Mädchen aus dem Volke sein, sondern sie bezogen sich auf die Männer, vielleicht auf eine spezielle Spielmannsschicht. Mit der Ankunft der Deutschen, der Unterdrückung des Volkes bis zur Sklaverei mußten auch allmählich die Bewahrer der epischen Lieder und mit ihnen auch die Lieder selbst verschwinden. Blieben vielleicht daraus nur einige Erinnerungen in unseren Sagen und Märchen.[28]

Die Idee von einer Spielmannsschicht bei den Letten wird Barons wohl als Paralelle mit den keltischen Barden oder skandinavischen Skalden erdacht haben.

Die Suche nach dem Heroischen konnte nur durch eine Umgestaltung des Wertesystems geändert werden. Allmählich hob die lettische Intelligenz andere Aspekte der Volkskultur hervor. Einer der führenden zeitgenössischen Dichter Lettlands - Imants Ziedonis - meinte, mit aller Verehrung gegenüber Krisjanis Barons, daß gerade die Liebe zur Natur und Arbeit den Grundstein der lettischen Weltanschauung bilden, wobei die Akzentuierung von heroischen Taten in anderen Volksepen (Liedern) vielleicht aus einem Minderwertigkeitskomplex entstanden ist.[29]

Das größte Ereignis im Sinne der Suche nach dem Heroischen während des lettischen nationalen Erwachens war das Schaffen des lettischen Nationalepos Lâèplçsis (Bärentöter)[30] durch den Dichter Andrejs Pumpurs (1841-1902). Da die lettische Folklore wirklich sehr arm an epischen Elementen ist, wird Lâèplçsis von den heutigen Wissenschaftlern als Produkt romantischer Literatur und nicht als echtes Volksepos im Sinne der Kalevala oder des Nibelungenliedes verstanden.[31] Selbst Pumpurs gab im Vorwort zu seiner Lâèplçsis-Ausgabe zu, daß es sich hier nur um eine Verarbeitung von Bruchstücken von Sagenmaterial und keineswegs von einem urtümlichen Epos handelt.[32] Des weiteren sagt er, daß obwohl die Sage über Lâèplçsis recht alt sei, ihr Alter doch ungewiß sei. Dann habe er deren Ereignisse in eine historische Periode gesetzt, in die Zeit, als die deutschen Kreuzfahrer ins Baltikum kamen. Somit wurden die Sagenhelden zu Volkshelden, die für die Freiheit des lettischen Volkes kämpfen.[33] Pumpurs vertritt eine ganz bestimmte Geschichtsauffassung. Mehrere Typen seines Epos sind geschichtliche Personen, die in der Chronik [S. 16] Heinrichs des Letten[34] aus dem 13. Jahrhundert nachweisbar sind: die Häuptlinge der Liven und Letten, der Rigaer Erzbischof Albert, sein Lehensmann Daniel von Lennewarden, der Abt des Zisterzienserordens, Theoderich von Treyden. Obwohl es möglich ist, daß Pumpurs die Chronik studiert hat,[35] war seine Quelle vielmehr Garlieb Merkel. Es genügt festzustellen, daß die Grundbetrachtung der Geschichte Lettlands im 13. Jahrhundert mit der aufklärerischen Interpretation Merkels vollkommen übereinstimmt. Das betrifft sowohl das pseudomythologische Götterpantheon, als auch das Bild einer idyllischen, harmonisch-einträchtigen Gesellschaft der „alten Letten“ vor der deutschen „Unterjochung“, mit ihrer Priesterkaste der Vaidelosi und ihrem ursprünglichen Gesetzgeber Videvuds. Pumpurs bietet eine Synthese des „bon sauvage“ (Merkel) und dem der Romantik eigenen idealisierten Verständnis einer traditionellen Gesellschaft an. Auch die Darstellung der Deutschen, die abgesehen von Beruf, Stand oder Person nur als hinterlistige und in der Eroberung einheitliche Gruppe, die von Anfang an eine Unterjochung der „freien Letten“ anstrebte, erscheint ganz im Sinne der deutschbaltischen Aufklärung (Jannau, Snell, Merkel), deren Auffassung des 12. und 13. Jahrhunderts gut zu den Grundideen des nationalen Erwachens der Letten paßte.

Da aber die Letten als sprachlichethnische Individualität (Nation als Organismus) im Gegensatz zu den politischen Grenzen zum ersten Mal von der lettischen Intelligenz verstanden wurde, begannen sie eine geschichtliche Solidarität mit anderen baltischen Völkern, Litauern und Altpreußen, zu fühlen. Besonders emotionell wurde die durch siegreiche Kämpfe und staatliche Macht gekennzeichneteGeschichte des Großfürstentums Litauen aufgefaßt. Gelegentlich wurde gar von einem letto-litauischen Volk gesprochen.[36] Einer der führenden Ideologen derJungletten - Atis Kronvalds (1837-1875), der besonders von Fichte beeinflußt war[37] - hielt seine „lettischen Abende“ in Dorpat unter dem Wahrzeichen Litauens ab: Reiter auf weißem Pferd in rotem Feld.[38] In seinem Aufsatz „Die Vaterlandsliebe“[39] bezeichnet Kronvalds „die Ehre der besten Söhne des lettischen Volkes“ als Quelle für die Vaterlandsliebe.[40] Dabei betont er, daß:

Kämpfer von solchem Vorbild sind vielleicht nur in den ältesten Zeiten des letto-litauischen Volkes zu finden, da die nachfolgende Sklaverei nur [S. 17] Sklaven und Knechte erzeugt hat. Aber gerade deshalb sollen wir diese längst vergessenen Männer in klarem Licht zeigen, der jüngeren Generation zum Vorbild Laßt uns wie einen Donnerschlag die Namen solcher Männer wie Margeris, Viesturs, Namiesis, Olgerds usw. nennen![41]

Wenn auch Viesturs (Viesthardus... maior natu de Semigallia... bei Heinrich) [42] und Namiesis (Nameise... houbetman in der Reimchronik) [43] Hauptmänner der Semgallen[44] im 13. Jahrhundert lebten, wurden Margeris und Olgerds (lit. Algirdas) der litauischen Geschichte entlehnt. Später wurde die Litauen-Thematik von Fridrihs Veinbergs, Sudrabu Edzus und anderen lettischen Schriftstellern weiter verfolgt.

Gleichzeitig kann man aber auch unter der lettischen Intelligenz des 19. Jahrhunderts tiefere Untersuchungen der Geschichtsquellen beobachten, die sich allmählich von aktuellen tagespolitischen Aufgaben abwandten und zum professionellen Studium wurden. Diese Entwicklung dürfte auch auf den Einfluß von deutschbaltischen Historikern wie Napiersky, Bunge, Pabst u.a., die sich mit der Quellenforschung des mittelalterlichen Baltikums beshäftigten, zurückgehen. Bereits 1857 schrieb der Gründer und geistige Vater der junglettischen Bewegung - Kriðjânis Valdemârs (1825-1891) - in seinem Artikel „Über die Heranziehung der Letten und Esten zum Seewesen“ über das Seewesen der Letten und Esten während der Wikingerzeit.[45] In dem Artikel über die Pflege der Seefahrt im Baltikum „Jûrniecîbas kopðana Baltijâ“ (1880) bezog er sich auf die Chronik Heinrichs, der berichtet, daß kurische Piraten 1210 Dänemark plünderten.[46] In dem publizistisch-kritischen Buch Zustände und Eigenthümlichkeiten in den baltischen Provinzen Russlands [47] äußert sich Kaspars Biezbârdis (1806-1886), daß „...die Leibeigenschaft kein durch die ersten Eroberer herbeigeführter Zustand, sondern ein Mißbrauch erlangter Übermacht der nachgewanderten Schwertritter-Brüderschaft war.[48] Das stand in völligem Gegensatz zu der früheren These über die „sofortige“ Unterjochung des lettischen Volkes nach der Ankunft der Deutschen. Es entsprach vielmehr den Quellenaussagen über das mittelalterliche Livland, die Friedrich Georg von Bunge bereits 1849 analysierte.[49] 1883 wurde die Chronik Heinrichs von Matîss Siliòð (1861-1942) ins Lettische übersetzt.[50] Siliòð übersetzte 1893 auch die „Livländische Reimchronik.“[51] Der junglettischen Bewegung gehörte auch [S. 18] der erste berufliche lettische Historiker Jânis Krodznieks (1851-1924) an.[52] Gleichzeitig muß man aber betonen, daß man in diesem Zusammenhang nur über einige Ausnahmen sprechen kann, da die lettische professionelle Geschichtsforschung erst an ihrem Anfang stand.

Es mangelte auch nicht an einem gewissen Kosmopolitismus in der junglettischen Bewegung. Zum Beispiel betonte Kriðjânis Valdemârs in seinem Artikel „Die Zukunft der Letten zwischen Russen und Deutschen“ („Latvieðu nâkotne krievu un vâcieðu starpâ“) (1886), daß Letten sowohl die russische als auch die deutsche Sprache erlernen sollen, da sie zwischen diesen Nationen eine Vermittlerrolle spielen könnten.[53] Am Vorabend der Russifikation des Baltikums sagte er sogar, daß die russisch sprechenden Letten sicher nicht seinem Volke fehlen werden, auch wenn sie ihre Muttersprache schon teilweise vergessen haben.[54] Auch in der romantischen Mittelalterauffassung von Andrejs Pumpurs, wie sie im Lâèplçsis erscheint, gilt als höchstes ethisches Ziel das Streben zum Wohl für die ganze Menschheit.[55] Diese stellt er als „uralte Wahrheit“ des geistigen Vaters des lettischen Volkes - Videvs - Videvuds - dar.[56] Trotz alledem blieben die nationalen Werte während des „nationalen Erwachens“ der Letten am wichtigsten. Emotionelles Übertreiben der Geschichte von Völkern baltischer Herkunft von der Frühzeit bis zum 13. Jahrhundert war in dieser Zeit eine ganz natürliehe Erscheinung, wie wir das z.B. in dem Artikel „Der Handel bei den alten Letten“ von Juris Alunâns (1832-1864) sehen können. Es fängt an mit den alten Griechen (deren urkundlich unbeweisbaren Begeisterung über die „Letten“) und endet mit dem „Krivs“, der ein geistiger Anführer und Hauptpriester der Letten gewesen-sein soll.[57]

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß für die weitere Entwicklung der nationalen Tradition gerade die poetische Interpretation der Geschichte im Sinne von Auseklis und Pumpurs am wichtigsten war. In allen lettischen Sängerfesten werden bis heute die Lieder von Auseklis gesungen, in denen seine Vorstellung von der ursprünglichen Freiheif der Letten, der Unterjochung durch die Deutschen und dem darausfolgendem Freiheitskampf verkörpert ist. Pumpurs’ Lâèplçsis nimmt den zentralen Platz auf dem in der Zwischenkriegszeit erbauten Freiheitsdenkmal ein. Lâèplçsis-Orden hieß der erste militärische Orden des unabhängigen Lettlands.[58] Die Figuren von [S. 19] „Lâèplçsis“ besitzen bis heute symbolische Bedeutung in Lettland: der „schwarze Ritter“ symbolisierte zuerst die deutschen Eroberer, später aber auch die russische und sowjetische Okkupation. Im Drama von Jânis Rainis „Feuer und Nacht“ (1905) kommt der „schwarze Ritter“ nicht aus Deutschland, sondern von den „Tataren.“ In der Rockoper „Lâèplçsis,“ aufgeführt zum ersten Mal 1987, haben die Menschen gegen die sowjetische Okkupationsmacht demonstriert.

Wenn man die Geschichtsbetrachtung der lettischen Intelligenz während des nationalen Erwachens insgesamt betrachtet, kann man sehen, daß es hier weniger um die Schaffung einer neuen Tradition, sondern um die Nutzung der bereits von der deutschbaltischen Aufklärung gegebenen Interpretation ging, die mit einer Akzentuierung des lettisch-nationalen Faktors den neuen Umständen angepaßt wurde[59].
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Anmerkungen

[*] Kaspars Kïaviòð, Historiker, Universität Riga.

[**] Im Unterschied zur Veröffentlichung in Baltica werden Personennamen im Literaturverzeichnis sowie in den Anmerkungen des vorliegenden Artikels lettisch geschrieben.

[1] Diese Zeitgrenze ist ungefähr. Während der 1890-er Jahre wandte sich die lettische Intelligenz allmählich den sozialdemokratischen Ideen und dem Marxismus zu.

[2] Niederhauser, Les problemes de l’identite nationale en Europe de l’Est (Budapest: Verlag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, l982), s. 399-400.

[3] E.Blanks, Latvju tautas atmoda [Das Erwachen des lettischen Volkes] (Rîga: A.Ranka grâmatu tirgotavas apgâdîba, 1927), S. 169.

[4] Sie waren in Anlehnung auf die Bewegungen „Jeune France“ und „Junges Deutschland“, die liberale Ideen vertraten, „Jungletten“genannt. vgl. A.Ðvâbe, Latvijas vçsture 1800-1914 [Geschichte Lettlands 1800-1914] (Uppsala: Daugava, 1958), S. 363.

[5] G.H.Merkel, Die Letten vorzüglich in Liefland am Ende des philosophischen Jahrhunderts (Leipzig, 1797). Faktisch wurde es im Jahre 1796 publiziert. Das Jahr ist falsch angegeben.

[6] G.H.Merkel, Die Vorzeit Lieflands. Ein Denkmal des Pfaffen - und Rittergeistes, Bd. 1-2. (Berlin, 1798-1799).

[7] G.H.Merkel, Wannem Ymanta. Eine lettische Sage (Leipzig: Hartknorch, 1802). Für meinen Artikel habe ich die lettische Übersetzung des werkes von G.H.Merkel benutzt in G.Meríelis, Izlase [Anthologie] (Rîga: Liesma, 1969).

[8] Meríelis, Izlase, S. 59.

[9] Ebd., S. 57-59.

[10] Ebd., S. 59-60.

[11] Es ist schwer, von einem gemeinsamen „junglettischen Geschichtsbewußtsein“ zu sprechen. Diese Terminologie wird verwendet, weil andererseits Ausdrucksschwierigkeiten entstehen könnten.

[12] Vgl. R.Sussex and J.C.Eade, ed., Culture and Nationalism in Nineteenth-Century Eastern Europe (Columbus, Ohio: Slavica Publishers,1958): J.Zaprudnik, Belarus: at a Crossroads in History (Boulder. San Francisco, Oxford: Westview Press, 1993).

[13] J.G.Herder, Stimmen der Völker in Liedern (Stuttgart u. Tübingen: J.G.Cottasche Buchhandlung, 1807), S. 112.

[14] Meríelis, Izlase, S. 247.

[15] E.Seraphim, Livländische Geschichte von der ‚Aufsegelung’ der Lande bis zur Einverleibung in das russische Reich, Bd. 1. Dit Zeit bis zum Untergang livländischer Selbständigkeit (Reval: I897), S. 3.

[16] J.G.Fichte, Reden an die Deutsche Nation (Berlin:1807/08).

[17] G.Hoff'meister, Deutsche und europäische Romantik (Stuttgart: Metzlers, 1978). S. 110.

[18] Ebd., S. 97.

[19] Vgl. Niederhauser, Les problemes. Seiner Ansicht nach waren solche Rückgriffe in die Vergangenheit für die Völker, die keine eigene feudale Oberschicht aufweisen konnten, charakteristisch.

[20] Apinis, Neprasot atïauju. Latvieðu rokraksta literatûra 18. un 19. gadsimtâ [Ohne um Erlaubnis zu fragen. Die lettische handschriftliche Literatur während des 18. und 19. Jahrhunderts] (Rîga: Liesma, 1987), S. 103.

[21] Ebd., S. 104-105. Videvud (Videvuds) ist eine pseudo-historische Figur vielleicht altpreußischen Ursprungs, die zum ersten Mal in De Borussiae antiquitatibus von Erasmus Stella im I6. Jahrhundert erscheint und die später oft in der lettischen Literatur erschien, wie das von Jâzeps Rudzîtis angeführt wird in seinen Kommentaren zu Andrejs Pumpurs, Lâèplçsis, S. 306.

[22] J.Lapiòð, Hrsg., Ausekïa kopoti raksti [Gesammelte Schriften von Auseklis] (Rîga: A.Gulbja apgadîbâ, 1936), S. 396-397. Der Aufsatz stammt ungefähr aus dem Jahre 1873.

[23] Meríelis, Izlase, S. 239.

[24] Ebd., S. 219.

[25] Lapiòð, Ausekïa kopoti raksti, S. 397.

[26] Ebd., S. 391.

[27] O.Ambainis, Latvieðu folkloristikas vçsture [Die Geschichte der lettischen Folkloristik] (Rîga: Zinâtne, 1989), S. 50. DieGrundsteine dieser Theorie hatten vor allem die Brüder Grimm gelegt.

[28] Kr.Baron et H.Wissendorff, Chansons nationales lataviennes (Mitau: H.J.Drawin-Drawneeks. 1894), XXI.

[29] I.Ziedonis, Tu dzîvoji diþu darbu. Manas toutasdziesmas [Hast du mit der Arbeit gelebt. Meine Volkslieder] (Rîga: Liesma. 1985) u.a.

[30] Lâèplçsis wurde zum ersten Mal 1888 am Vorabend des dritten lettischen allgemeinen Sängerfestes publiziert.

[31] V.Vîíe-Freiberga, „Andrejs Pumpur’s Lâèplçsis (‚Bearslayer’): Latvian national Epic or Romantic Literary Creation?“, in National Movements in the Baltic Countries during the 19th Century, ed. A. Loit (Uppsala: Textgruppen i Uppsala A B, 1985), S. 523-536.

[32] A.Pumpurs, Lâèplçsis. Latvju tautas varonis. Tautas eposs. Ar Jâzepa Rudzîða komentâriem [Der Bärentöter. Held des lettischen Volkes. Volksepos. Mit einem Vorwort und Kommentaren von Jâzeps Rudzîtis] (Rîga: Zinâtne, 1988). S. 142.

[33] Ebd., S. 145.

[34] Henrici, Chronicon Livoniae (Würzburg: Holzner Verlag, 1959).

[35] Pumpurs, Lâèplçsis, S. 76.

[36] A. Kronvalds, Tagadnei. Izlase [Für die Gegenwart. Auswahl] (Rîga: Liesma, 1987), S. 63.

[37] Ebd., S. 60.

[38] Ðvâbe, Latvijas vçsture, S. 404.

[39] Zum ersten Mal publiziert erst nach seinem Tod, 1886.

[40] Kronvalds, Tagadnei, S. 64.

[41] Ebd.

[42] Henrici. Chronicon. S. 34.

[43] L.Meyer, Hrsg., LivländischeReimchronik mit Anmerkungen, Namenverzeichniss und Glossar (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1876), S. 198.

[44] Semgallen (zemgaïi) - baltisches Volk, das auf dem heutigen Territorium Lettlands lebte und am längsten von allen baltischen Völkern (mit Ausnahme der Litauer) gegen die Dtutschen kämpfte.

[45] K.Valdemârs, Rakstu izlase [Auswahl] (Rîga: Militârâs literatûras apgâdes fonda izdevums, 1938), S. 279.

[46] Ebd., S. 292. Curenñ ein baltisches Volk das auf dem Territorium des heutigen Lettlands und Litauens lebte.

[47] Zustände und Eigenthümlichkeiten in den baltischen Provinzen Russlands (Bautzen: Schmaler & Pech, 1865). Das Buch erschien anonym in deutscher Sprache.

[48] Ebd., S. 20.

[49] F.G. von Bunge, Einleitung in die liv-, esth- und curländische Rechtsgeschichte und Geschichte der Rechtsquellen (Reval: F.J.Koppelson, l849).

[50] T.Zeids. Senâkie rakstîtie Latvijas vçstures avoti [Die ältesten schriftlichen Quellen der Geschichte Lettlands] (Rîga: Zvaigzne, 1992), S. 28.

[51] Ebd., S. 30.

[52] E.Buceniece, Hrsg., Ideju vçsture Latvijâ [Die Geschichte der Ideen in Lettland] (Rîga: Zvaigzne ABC, 1995), S. 483.

[53] Valdemârs, Rakstu izlase. S. 207-209.

[54] Ðvâbe. Latvijas vçsture, S. 380.

[55] Pumpurs, Lâèplçsis, S. I89-l90; Vîíe-Freiberga, Andrejs Pumpurs, S. 533.

[56] Siehe Anmerkung No 20.

[57] J.Alunâns. Izlase [Auswahl] (Rîga: Latvijas Valsts izdevniecîba, 1956) S. 154-I57. Der Artikel stammt aus dem Jahr 1858

Die Erzählung über „Krivs“, der in Preußen grlebt hätte und dessen Macht auch die alten Letten anerkannt hätten, entlehnt Juris Alunâns von Garlieb Merkel, der diese Erzühlung von Peter von Dusburg entnimmt, dessen „Chronicon terrat Prussiae“ in der ersten Hälfie des l4. Jahrhunderts geschrieben worden war.

[58] Vîíe-Freiberga, Andrejs Pumpurs, S. 523-524. Hier wird auch die Bedeutung von Lâèplçsis für die lettische Nation beschrieben.

[59] Vor allen kann man hier über den Einjfluß von Garlieb Merkel sprechen. Über andere deutschbaltische Aufklärer, die eine ähnliche Einstellung gegenüber dem baltischen Mittelalter wie Merkel hatten, siehe in Kaspars Kïaviòs „The Baltic Enlightenment and Perceptions of Medieval Latvian History“, Journal of Baltic Studies, Bd. 29, No 3 (1998), S. 213-224.
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Publicçts: Baltica: Die Vierteljahresschrift für Baltische Kultur. 2000, Heft 3, Herbst. S. 10-21.

Ievietots: 02.04.2003.

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